Schon vor Wochen habe ich die Blogparade von Carolin Weise mit dem Titel: «Starke Frauen – eine Kurzbiografie» entdeckt. Doch erst vor ein paar Tagen wusste ich von einem Augenblick zum anderen, über wen ich einen Artikel schreiben möchte.
Und ich freue mich sehr, dass Uschi Waser mir so spontan für ein Interview zugesagt hat.
Uschi und ich haben uns über Instagram kennengelernt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie etwas über die «Kinder der Landstrasse» gehört.
Und das, obwohl ich schon immer sehr interessiert an der Schweizer Vergangenheit war – auch an der dunklen.
Bis 1981 waren Fürsorgemaßnahmen und Fremdplatzierungen Teil der Schweizer Sozial- und Familienpolitik.
Kinder, die in diese Mühle gerieten, verbrachten nicht selten ihre gesamte Kindheit in Heimen, in denen Misshandlungen, Missbrauch und Zwangsarbeit zur Tagesordnung gehörten.
Eine dieser Maßnahmen kam von der Pro Juventute, welche die Stiftung «Kinder der Landstrasse» gründete. Das Ziel des Hilfswerks war, die Kinder von Jenischen von ihren Familien zu trennen und zur Sesshaftigkeit umzuerziehen. Damit wollten sie die Kultur der Fahrenden auslöschen.
Uschi, die ihrer jenischen Mutter weggenommen und in einem Heim platziert wurde, wurde so zu einem dieser «Kinder der Landstrasse».
Sie musste eine Kindheit erleben, die selbst ich als Autorin mir nicht ausmalen kann.
Dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte wurde nie richtig aufgearbeitet.
Für mich ist es unbegreiflich, dass ich in meiner gesamten Schulzeit weder von Verdingkindern, noch Zwangsadoptionen oder Zwangssterilisationen gehört habe.
Ich glaube, es ist wichtig für eine Gesellschaft, ihre Vergangenheit zu kennen. Eine Vergangenheit, die sich bis zum Anfang der 1980er Jahre erstreckt hat.
Uschi Waser kämpft dafür, dass dieser Teil der Geschichte ans Licht kommt und dafür bewundere ich sie.
Gestohlene Kindheit.
Uschi kam im Dezember 1952 als Kind einer jenischen, unverheirateten Mutter zur Welt. In einer Zeit, in der die Schweiz keinen Platz für anderslebende bot.
Ein halbes Jahr nach ihrer Geburt wurde sie per «Transportbefehl» von der Polizei abgeholt und bereits in das dritte Kinderheim eingewiesen. Auftraggeber für diesen Einsatz war die Pro Juventute mit ihrem damaligen Hilfswerk «Kinder der Landstrasse».
Von da an verbrachte Uschi ihre gesamte Kindheit und Jugend in verschiedenen Heimen und Pflegefamilien.
Rund 26 Mal wurde sie umplatziert. Und egal wo sie leben musste, man war ihr nie wohlgesonnen. Sie trug den Stempel des «Vagantenkindes», dem durchweg schlechte Eigenschaften angedichtet wurden.
Dass sie in den Augen derer, die für sie hätten Sorgen sollen, minderwertig war, ließ man sie bei jeder Gelegenheit spüren. Physisch und psychisch.
Zwischenzeitlich lebte sie auch bei ihrer Mutter. Dort erging es ihr allerdings auch nicht besser. Während dieser Aufenthalte wurde sie von ihrem Stiefvater und ihrem Onkel vergewaltigt.
Uschi wehrte sich, es gab ein Gerichtsverfahren. Doch sie hatte keine Chance.
Darauf verstieß ihre Mutter sie und Uschi wurde in die geschlossene Erziehungsanstalt «Zum Guten Hirten» in Altstätten (SG) administrativ versorgt.
Um all das auszuhalten, flüchtete sich Uschi in eine Fantasiewelt. Sie malte sich ihre Zukunft in den schönsten Farben aus.
In dieser Parallelwelt hatte sie eine Familie, wäre eine liebende Mutter, hätte ein gelbes Auto mit glänzenden schwarzen Sitzen. Dort wäre sie geliebt.
Diese Träume und der Glaube an eine bessere Zukunft hielten sie am Leben.
Obwohl sie von niemandem unterstützt wurde, war sie eine gute Schülerin. Sie hätte gerne einen Beruf mit Kindern erlernt, doch im Heim ließ man ihr keine Wahl.
So musste Uschi eine Lehre zur Damenschneiderin machen. Die Abschlussprüfung dauerte drei Tage. Wer am letzten Prüfungstag sein Kleid direkt im Anschluss mitnehmen durfte, hatte bestanden.
Die Prüfung meisterte sie problemlos. Dieser Abschluss war auch wichtig, denn er war Bedingung für ihre Entlassung aus dem Erziehungsheim.
Noch am Prüfungstag warf sie das von ihr genähte Kleid weg. Und auch danach hat sie nie mehr ein Kleid für sich genäht.
Vermeintliche Freiheit.
1971, nach ihrem Lehrabschluss, konnte Uschi das Mädchenerziehungsheim «Zum Guten Hirt» in Altstätten (SG) verlassen.
Das erste Mal in ihrem Leben war sie ein freier Mensch.
Doch, wie frei ist man, wenn man ohne Geld, ohne Rückhalt und ohne Orientierung auf der Straße steht?
In ihrer Ausweglosigkeit kehrte sie zu ihrer Mutter, die noch immer mit Uschis Stiefvater zusammenlebte, zurück.
Dort, im Kreise der Jenischen, lernte sie auch ihren Mann kennen. So kam es, dass sie kaum ein halbes Jahr nach ihrer Entlassung verheiratet war und ihr erstes Kind erwartete.
In den folgenden Jahren lebte sie mit ihrem Ehepartner von den Behörden unbehelligt als «Sesshafte» in einer Wohnung.
Der Zusammenbruch.
Uschi, inzwischen von ihrem Mann geschieden, hatte sich ein gutes Leben aufgebaut.
Sie hatte zwei Töchter, arbeitete und war ein positiv denkender, zufriedener Mensch. Trotz ihres schwierigen Starts hatte sie alles im Griff.
Doch dann, 1989, las Uschi ihre Akten. Sie umfassten 3’500 Seiten.
3’500 Seiten triefend vor Verachtung für dieses wehrlose Kind.
Bisher hatte sie sich von ihren Eltern im Stich gelassen gefühlt. Doch mit diesen Akten wurde ihr die Tragweite der Rolle des Staats an ihrem Schicksal schmerzhaft bewusst.
Diese erneute Entwurzelung riss ihr komplett den Boden unter den Füssen weg.
Uschi, die schon so viel ertragen und irgendwie bewältigt hatte, verlor den Halt.
Die einzige Option, die sie von da an noch sah, war der Tod.
Diesen Gedanken spann sie so weit, wie sie es in ihrer Kindheit mit den Bildern von einer wunderbaren Zukunft getan hatte.
Sie sah ihren Sarg, die Todesanzeige, alles bildlich vor sich.
Sie, die so viel überlebt hatte, wollte nicht mehr leben.
Die Rettung.
Doch schlussendlich gewann etwas anderes in ihr die Oberhand. Ihr Gerechtigkeitssinn.
Sie beschloss, für die Aufarbeitung der Geschichte zu kämpfen. Für sich und all die Anderen.
Dieser dunkle Teil der Schweizer Geschichte musste ans Licht gebracht werden.
So unfassbar viele Familien, Träume und Leben waren zerstört worden. Und keiner sprach darüber.
Aber Uschi sprach.
Sie sprach mit den Medien.
Sie sprach mit Behörden.
Sie sprach an Podiumsdiskussionen.
Sie sprach an Schulen.
Sie sprach in Reels auf Instagram.
Und sie spricht noch immer.
Der Kampf geht weiter.
Als Präsidentin der Stiftung Naschet-Jenische setzt sie sich seit Jahren für die Aufarbeitung der Geschichte ein.
Weiter kämpft sie dafür, dass Themen wie fürsorgerische Zwangsmaßnahmen in die Geschichtsbücher kommen und an Schulen in den Unterricht aufgenommen werden.
Das scheint auf einem guten Weg zu sein.
Doch die Aufarbeitung der sexuellen Missbräuche der «Kinder der Landstrasse» ist bis jetzt ein Tabu geblieben.
Was sind «die Kinder der Landstrasse»?
1926 gründete Pro Juventute die Stiftung «Kinder der Landstrasse» mit dem Ziel, Kinder von Jenischen von ihren Familien zu trennen, um sie zu «brauchbaren Gliedern der Gesellschaft» zu erziehen.
Der Hauptgrund war aber die Kultur der Fahrenden vollends auszulöschen.
Zwischen 1926 und 1973 wurden ca. 600 Kinder Opfer der Zwangsassimilierung von «Vagantenfamilien».
Was sind fürsorgerische Zwangsmaßnahmen?
Mehrere 100’000 Menschen waren bis in die frühen 1980er-Jahre von Fürsorgemaßnahmen unter Zwang betroffen.
Wer aus dem gesellschaftlichen Raster fiel, und das war eng zu jener Zeit, lief Gefahr in eine der über tausend Erziehungs- oder Arbeitsanstalten eingewiesen zu werden.
Besonders im Visier der Behörden und der Kirche waren vor allem Arme, Jenische, Suchtkranke, unverheiratete oder geschiedene Mütter und ihre Kinder, Waisen oder arbeitslose Männer.
Jugendliche und Erwachsene, die die Behörden als «liederlich» oder «arbeitsscheu» einstuften, kamen ohne gerichtlichen Beschluss und ohne gegen ein Gesetz verstoßen zu haben, in eine «Arbeitsanstalt».
In psychiatrischen Kliniken und Spitälern sterilisierten die Ärzte Frauen und kastrierten Männer ohne deren Zustimmung oder deren Wissen.
Andere Patienten und Patientinnen, teilweise auch Angestellte, wurden, ohne es zu wissen, für Versuche mit noch nicht zugelassenen Medikamenten missbraucht.
Weitere Informationen und Schulmaterial:
Die Plattform «Gesichter der Erinnerung» informiert über fürsorgerische Zwangsmaßnahmen und bietet Schulmaterial für die Sekundarstufen I und II zum herunterladen an.
Liebe Edith, vielen Dank für deinen Artikel über Uschi Waser. Was für eine starke Frau! Was für eine unsägliche Geschichte. Wie viel Kraft in Uschi steckt und welche Widerstandsfähigkeit und Liebe – habe mir dank deines Links gleich ein paar Videos von ihr angesehen – das berührt mich sehr und gleichzeitig ermutigt Uschis Lebensweg auch. Denn trotz aller Täler, in die sie gestürzt wurde, hat sie immer wieder Wege gefunden, sich selbst treu zu bleiben.
Durch deinen Artikel machst du auf Praktiken der Schweiz aufmerksam, die mich stark an die gestohlenen Generationen von Australien https://de.wikipedia.org/wiki/Gestohlene_Generationen
Wie vermutlich die meisten Menschen habe ich noch nie von den Jenischen gehört, auch hier ist dein Artikel ein wichtiger Augenöffner. Ich wünsche deinem Artikel viele Leser:innen und Uschi wünsche ich viel Erfolg dabei, das Thema in der schweizerischen Geschichtsschreibung und in den Lehrbüchern zu verankern.
Hoi Edith… wundervoll geschrieben… so schön das unser hin- und her gequassel bei dir zu dieser tollen Idee geführt hat…
Liebe Grüsse von mir an Dich und Uschi…
Hoi liebe Monia,
Ich bin auch sehr froh!
Grüessli und danke für diesen „Anstoss“.
Edith
Liebe Edith,
vielen Dank für deinen Beitrag zu meiner Blogparade! Ich freue mich, dadurch so viele beeindruckende Frauen kennenzulernen. Stark, dass du mit deinem Artikel Uschi Wasers Mission weiterträgst.
Bisher hatte ich noch nie von den Jenischen gehört; und das, obwohl ich im Lsndkreis Ludwigsburg lebe:
„Eine erste Schrift, in der das Wort „Jenische“ nicht als Fremd-, sondern als Eigenbezeichnung für Gruppen von „Fahrenden“ verwendet wird, liegt mit dem 1793 anonym veröffentlichten Abriß des Jauner- und Bettelwesens in Schwaben[3] vor, der meist dem Ludwigsburger Zuchthauspfarrer und Waisenhausdirektor Johann Ulrich Schöll zugeschrieben wird.“ (zitiert aus Wikipedia)
Uschis Lebensgeschichte ist wirklich unfassbar. Ich hätte auch nicht gedacht, dass in der Schweiz solche naziähnlichen, menschenverachtenden Strukturen vorherrschten. Wirklich stark und beeindruckend, dass Uschi die Kraft hatte, sich ihr eigenes zurückzuerobern und nun für die Aufarbeitung dieser Verbrechen kämpft!
Herzlichen Dank und liebe Grüße
Carolin