In einem Workshop zur Figurenentwicklung habe ich diese Strategie gelernt, die ich ehrlich gesagt erst belächelt habe.
Im Laufe meiner Ausbildung zur Romanautorin habe ich allerdings den Grundsatz: alles erst ausprobieren, bevor man sich dagegen entscheidet, verinnerlicht und mich auf dieses Experiment eingelassen.

Zu Beginn eines Couchgesprächs stelle ich mir meine Figur genau vor.
Was hat sie an? Wie betritt sie den Raum? Fühlt sie sich wohl in einer neuen Umgebung?

Wenn ich sie dann vor mir sehe und ein Gefühl für sie bekommen habe, biete ich ihr höflich einen Platz an.
Dann stelle ich ihr meine offenen Fragen.
Klingt verrückt? Ist es in gewisser Weise vielleicht.
Aber vor allem ist es wahnsinnig aufschlussreich.

Inzwischen ist es mein liebstes Mittel, mich meinen Figuren anzunähern.

 

Mein Gespräch mit Anna (Name aus Datenschutzgründen geändert):

 

Mit federnden Schritten, in gerader Haltung, betritt Anna kaugummikauend mein Wohnzimmer.
Ganz selbstverständlich behält sie die Schuhe an und nimmt unaufgefordert auf dem Sofa Platz.

«Okay, du hast mich eingeladen um mich besser kennen zu lernen.»
Sie streift die ehemals weißen Turnschuhe ab, lässt sie achtlos vor dem Sofa liegen, und lehnt sich im Schneidersitz zurück in die Kissen.
Mit zwei Fingern zieht sie an der Socke mit Totenkopfmuster, die bis zur Ferse runtergerutscht ist.
Durch ein grosses Loch in ihrer Bluejeans blitzt ein braungebranntes Knie hervor.

«Ja, genau das möchte ich. Kaffee oder Tee?»

«Kaffee. Schwarz. Drei Zucker. Dann schieß mal los. Was willst du wissen?»

«Erzähl einfach von dir. Wie war deine Kindheit?»

«Bist du Psychologin oder was? Normal halt. Vater, Mutter, zwei Brüder. Arwed und Asmus sind älter als ich. Sie sind der Stolz meiner Eltern. Beide haben studiert, rauchen nicht, trinken nicht, machen nie Ärger. Stinklangweilig.» Sie reckt das Kinn. «Ich war auch gut in der Schule. War mir aber alles zu theoretisch. Als ich an einem Nachmittag auf dem Heimweg vom Gymnasium meinen Freund Fabrizio von der Baustelle abholte, wusste ich sofort: Das ist es

«Bereust du deine Berufswahl manchmal?»

«Nur wenn ich die Lohnabrechnung anschaue.»
Ein schiefes Grinsen spannt ihre volle Unterlippe, durch die ein schmaler Ring verläuft.

«Aber abgesehen vom Lohn liebe ichs Gipserin zu sein. Wir sind ein gutes Team. Ich mag es mich bei der Arbeit auszupowern und immer wieder auf anderen Baustellen zu sein.»

Sie nimmt einen Schluck aus der geblümten Großmutter-Tasse, die so gar nicht zu der jungen Frau mit den blauen Haarspitzen passt.
Behutsam setzt ihren Kaffee  auf dem Oberschenkel ab und senkt den Blick. «Meine Eltern sind so oder so enttäuscht von mir. Ich rauche seit der Oberstufe. Meine ersten Piercings waren ein Schock für sie. Sie sind überzeugt, dass ich in der Hölle schmoren werde. Die Tattoos versuchte ich erst noch zu verstecken. Aber hey», Anna legt den Kopf in den Nacken, mein Blick verweilt auf der postkartengrossen Lilie, deren Blüten sich um ihren Hals legen. Dann streckt sie den linken Arm vor ihrem Körper aus, das Abbild eines Tigerkopfs mit stechend blauen Augen erstreckt sich vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, «es ist wohl nicht mehr zu verbergen.»

Wieder dieses leicht schiefe Grinsen.

«Warum die ganzen Tattoos?»

«Ist das echt deine Frage? Alle fragen das. Warum tätowierst du dich? Was haben die Tattoos für eine Bedeutung? Immer derselbe Quatsch. Mir gefällts, Punkt.»

«Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen.»

«Keine Sorge, dass schaffst du nicht. Sonst noch was? Ich wollte mit den Jungs was trinken gehen.»

«Nur noch kurz. Warum hast du einen Nebenjob angenommen? Und macht er dir Spaß?»

«Spaß? Dir brennt wohl der Helm?! Die gehen mir sowas von auf den Sack dort. Ich bin so nem Schnösel hinten drauf gefahren. Den Schaden muss ich abbezahlen. Den Job habe ich angenommen, damit ich die Sache schneller hinter mir habe. Ich hasse Schulden.»
Energisch trinkt sie den letzten Schluck Kaffee aus.
«Und jetzt saniert mein geldgeiler Vermieter auch noch die Wohnungen. Bald explodieren die Mieten. Keine Ahnung wie es dann weitergeht. Kennst du zufällig jemanden, der eine günstige Wohnung vermietet?»

«Leider nicht. Aber warte ab, ich habe da eine Lösung für dich im Kopf. Wird dir gefallen. Und danke, du hast mir wirklich weitergeholfen. Bisher habe ich dich immer als Kaminfegerin gesehen.»

«Im Ernst? Das wäre voll nicht mein Ding. Den ganzen Tag alleine in irgendwelchen Heizkellern rumhängen. So, meine Jungs warten. Und vergiss das mit der Wohnung nicht.»

 

Das war ein Auszug aus einem Kaffeeklatsch mit einer meiner Nebenfiguren.
Ich kann diese Methode Schreibenden nur ans Herz legen. Und es macht nebenbei noch Spass. Ich glaube, ich werde jetzt einen Kuchen backen und mich mit Philomena, einer älteren Dame aus meinem Roman, zusammensetzen. Die verrät mir bestimmt noch was.

 

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